Sind wir nicht alle polyamor?
Dieser Beitrag wurde ursprünglich am 30.5.2021 auf meinem Blog veröffentlicht, damals noch auf Tumblr.
Polyamorie ist, wenn man mehrere Menschen liebt. Das ist zumindest die kurze Version der Definition.
Sind dann nicht die meisten Menschen polyamor? Wir lieben vielleicht unsere Eltern, unsere:n Partner:in, unsere Kinder, und unsere richtig guten Freund:innen lieben wir doch auch irgendwie. Alle auf eine andere Art. Aber die Liebe zum ersten Kind wird nicht weniger, sobald das zweite auf die Welt kommt. Liebe ist keine endliche Ressource.
"Ja sorry aber das ist doch was anderes als Polyamorie oder?" denkst du dir jetzt vielleicht. Ja okay, bei Polyamorie geht es um Liebesbeziehungen, um die romantisch-emotional-erotische Art von Liebe. Aber eigentlich gelten da die gleichen Prinzipien. Dass man in einem Leben mehrere Menschen lieben kann ist ja offensichtlich - denn die Monogamie ist ja genau genommen meist eine "serielle" Monogamie: man hat ne Weile eine Person, die man mehr liebt als alle anderen, und oft endet das irgendwie weil die Liebe versandet oder weil jemand anderes auftaucht, der sich noch richtiger anfühlt. Also wird die eine Beziehung beendet und die andere begonnen. Oder es überschneidet sich inoffiziell ein bisschen, das ist auch gar nicht so selten. Der einzige Unterschied bei der Polyamorie ist also aus meiner Sicht die transparente Gleichzeitigkeit von mehr als einer Liebesbeziehung. Das schöne daran: wenn man sich in eine neue Person verliebt, muss man den bisherigen Herzensmensch nicht verlassen.
"Ja okay, Liebe ist nicht begrenzt, aber Zeit und Aufmerksamkeit doch schon!" denkst du dir jetzt vielleicht. Ja, das stimmt. Das ist generell so - ich kann nicht unendlich viele Sachen gleichzeitig gut und engagiert machen. Deshalb hab ich nur einen Vollzeitjob, nur eine Hand voll guter Freund:innen, und muss auch bei meiner Freizeitgestaltung immer wieder überlegen was mir grad wichtiger ist. In Beziehungen zu Menschen (freundschaftliche oder romantische) ist mir wichtig, eine gewisse Tiefe und Vertrauen aufzubauen, und nicht möglichst viele Kontakte zu haben. Aber zwei Partner könnte ich mir schon vorstellen, das liesse sich organisieren. Sowieso möchte ich (egal ob es sich um einen Partner oder mehrere handelt), dass ich auch noch andere Schwerpunkte im Leben haben kann und sich nicht alles um die Beziehung dreht. Mal eine Woche Urlaub machen mit einer Freundin oder einen Abend einfach allein sein. Eine Partnerschaft mit Vertrauen und Commitment aber ohne Abhängigkeit - wo zwei Menschen mega gern gemeinsam Zeit verbringen, aber gleichzeitig selbständig bleiben. Wobei ich sowieso schon zwei Beziehungen führe: die zu mir selbst und die zu meinem Partner. In so einer Situation kann man, glaube ich, auch damit klar kommen, dass es im Leben des Partners noch andere wichtige Menschen gibt.
"Ja klingt logisch, aber hast du denn keine Angst vor Eifersucht?". Diese Frage habe ich schon oft gehört, und zwar wörtlich genau so. Es scheint als sei die Angst vor der Eifersucht das grössere Problem als die Eifersucht selbst. Ich habe keine Angst (mehr) vor Eifersucht. Ich versuche generell, keine Angst vor Gefühlen zu haben. Sonst vermeide ich vieles, was mein Leben schön und aufregend macht. Wenn ich Angst vor Verlust habe, kann ich mich auf niemanden einlassen weil früher oder (hoffentlich) später, werde ich jede:n verlieren. Um negative Gefühle zu vermeiden, würde ich auch die positiven verpassen. Eifersucht ist ja noch nicht mal ein Gefühl, sondern so ein fieses furchteinflössendes Konstrukt aus tatsächlichen Gefühlen und Bedürfnissen, die man nur erkennt, wenn man die Eifersucht im Moment wenn sie sich zeigt mal ganz genau unter die Lupe nimmt. Dann entpuppt sie sich eventuell sogar als etwas anderes, vielleicht Neid. Oder es steckt Verlustangst dahinter. Wenn man herausgefunden hat, was dahinter steckt, kann man besser damit umgehen. Spannend ist auch, wie sie sich manchmal verzieht, sobald man mit dem Partner darüber redet. Dann fühlt man sich gesehen, was schon ausreichen kann, oder man überlegt gemeinsam, was hilft. Oder mal gedanklich den Spiess umdrehen und überlegen, ob der Partner sich in der umgekehrten Situation grad Sorgen machen müsste - mir hat das schon geholfen. Und zur Not kann man auch einfach mal die Eifersucht spüren, akzeptieren, was anderes machen und warten bis sie vorbei gezogen ist. Aber ehrlich gesagt: meistens ist es voll easy wenn mein Partner andere Menschen trifft, auch bei Dates. Ich freu mich, dass er seine sozialen Kontakte pflegt, hoffe er hat eine gute Zeit, und freu mich wenn er mir später erzählt, wie interessant oder schön es war. Es ist offenbar nicht selbstverständlich, aber irgendwie total sinnvoll, sich mitfreuen zu können wenn es jemandem gut geht, den man liebt - egal was der Grund ist.
"Ja schön, aber ich möchte für jemanden die Einzige sein." Bist du dir sicher, dass das wirklich dein Bedürfnis ist? Oder steckt etwas anderes dahinter wie zB. der Wunsch nach Zuverlässigkeit, Sicherheit und Beständigkeit? Offenbar haben viele Menschen gelernt, dass romantische Liebe nur was wert ist, wenn sie für jemanden die einzige Person sind. Das gibt eine so schöne grosse Portion Bestätigung. Bestätigung fühlt sich sicher gut an, aber wenn mein Partner mir regelmässig zeigt, wie toll er mich findet, macht es alles wieder zunichte, wenn er noch jemand anderen auch toll findet? Ich bin an einem Punkt angekommen, wo mich das nicht verunsichert, weil ich realisiert habe, dass ich einzigartig bin und mich nie jemand ersetzen wird. Aus meinem früheren Bedürfnis danach, die Einzige für jemanden zu sein, wurde die Erkenntnis, dass ich Sicherheit brauche in Form von langfristigem Commitment. Und wenn ich mich so richtig sicher fühle, ist ganz vieles möglich, dann kann ich locker lassen.
"Ja aber fühlt es sich nicht auch mal schlecht an, dass dein Partner nicht jederzeit für dich da ist?" Klar, wenn mein Partner mal was anderes macht als ich mir grad wünsche (zB. einen Nachmittag am Computer verbringt während ich gern Zeit mit ihm verbringen würde, oder ein Date hat während ich grad jemand zum reden bräuchte, oder beruflich unterwegs ist und wir uns eine Weile nicht sehen) dann fühlt sich das eventuell nicht so gut an. Deshalb ist es gut, noch weitere Menschen im Leben zu haben und nicht für alle Bedürfnisse von einer Person abhängig zu sein. Jemand zum reden, jemand den ich anrufen kann wenn ich mich plötzlich krank fühle, einfach ein kleines Netzwerk, Familie, Freund:innen, vielleicht ein zweiter Partner. Aber das unterscheidet sich eigentlich gar nicht von monogamen Beziehungen, niemand kann zu 100% jederzeit erreichbar und verfügbar sein und das ist auch okay, jede:r sollte noch sein eigenes Leben haben.
"Ja aber… was ist, wenn dein Partner dann irgendwann die Richtige kennenlernt und dich verlässt?". Ha, gute Frage! Ich hoffe einfach, dass mein Partner wirklich so polyamor ist, wie er denkt. Dann wird er mich nicht wegen einer anderen Frau verlassen. Und ich selbst habe auch aufgehört, "den Einen" zu suchen. (Ja, ich habe bis vor einiger Zeit noch gedacht, es gibt eine Person, die genau zu mir passt und mit der ich mein Leben verbringe.) Lustigerweise habe ich jetzt jemanden gefunden, mit dem ich mir vorstellen kann, den Rest meines Lebens zu verbringen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der richtiger gewesen wäre, es fehlt mir an nichts und ich bin so glücklich, dass ich manchmal fast platze vor Zufriedenheit. Das Commitment ist da, es fühlt sich richtig und gut an so. Und gleichzeitig kann ich weiter neugierig und aufgeschlossen auf Menschen zugehen, treffe Leute, die mir sympathisch sind, und muss da keinen Bogen um attraktive Männer machen - weil mein Partner sie nicht als Bedrohung sieht. Dass ich auf Dating-Plattformen angebe, in einer einer offenen/polyamourösen Beziehungen zu sein aber nicht auf der Suche nach sexuellen Abenteuern bin, scheint allerdings immer wieder für Verwirrung zu sorgen - meist werden offene Beziehungen ja nur dafür geöffnet - eher nicht für tiefe Beziehungen mit Gefühlen. Es gab aber auch schon viele spannende Gespräche über Werte und Bedürfnisse, Besitzansprüche, Selbstbewusstsein und gesellschaftliche Normen. Insgesamt sind so schon einige interessante Gespräche entstanden.
Selbst wenn ich die Offenheit unserer Beziehung nicht für romantisch-sexuelle Begegnungen nutze, so bietet mir diese nicht-monogame Beziehungsform doch eine enorme Freiheit. Die Freiheit, ergebnisoffen neue Menschen kennenzulernen.
"Ja, aber hallo es war doch die ganze Zeit Pandemie, das passt ja wohl nicht so gut oder?" Völlig richtig, deshalb haben wir wenige Wochen nach dem ersten Kennenlernen eine sogenannte "Pandemie-Monogamie" vereinbart, also nur noch uns getroffen und sonst niemanden mehr. Letzten Sommer dann, als alles etwas lockerer war, haben wir zwischenzeitlich die Beziehung geöffnet und so auch die oben beschriebenen Erfahrungen mit Dating, Bedürfnissen usw. gemacht. Und ansonsten das nicht-monogame Mindset behalten, Spaziergänge mit Herzensmenschen gemacht, Compersion (Mitfreude) erfahren und sind uns mit dem locker lassen immer noch näher gekommen.
Dieses Thema beschäftigt mich jetzt seit fast 1,5 Jahren und ist vermutlich auch der Grund für die Stille hier im Blog. Ich hatte bisher immer Hemmungen, darüber öffentlich nachzudenken. Obwohl es ein Thema ist, worüber ich mich gern austausche. Die Vorurteile sind teils recht haarsträubend, man kann nicht kontrollieren, was andere darüber denken. Polyamorie ist ja auch für jeden was anderes. Manche leben das eher als unverbindliche Zwischenlösung, was ja auch okay ist. Mich verletzt es aber eher, wenn jemand annimmt, meine Beziehung wäre eher flüchtig. Weil sie mir so gut tut, auch wenn nicht alles immer total einfach ist.
Ich habe für mich gelernt, dass eine gute Beziehung nicht Exklusivität braucht, sondern Vertrauen, Commitment, Empathie, gute Kommunikation. Und Liebe natürlich :)
Wir haben vorhin darüber geredet, dass ich jetzt lange wenig auf diesem Blog veröffentlicht habe weil ich mich aus Angst vor Verurteilung selbst zensiert habe. Diese Woche habe ich folgendes Zitat von Nelson Mandela gefunden: "Ich habe gelernt, dass Mut nicht die Abwesenheit von Furcht ist, sondern der Triumph darüber." Offenbar habe ich jetzt gerade diese Angst überwunden. Und ich habe mir den Impuls von Mark Manson zu Herzen genommen: "What's so important in your life, you're willing to be ridiculed for it?"
Zurück zur Frage aus dem Titel: liebst du mehrere Menschen? bist du vielleicht auch polyamor? Falls du das Thema Polyamorie bzw. Nicht-Monogamie spannend findest, findest du untenstehend ein paar gute Quellen dazu.
Zuletzt möchte ich noch darauf hinweisen, dass ich (trotz des provokanten Titels) nicht behaupte, ein offenes Beziehungsmodell sei für jede:n das richtige. Das, was sich für dich und deine:n Partner:in gut anfühlt, ist das richtige für euch. Nicht das, was andere machen. Aber falls du jetzt Lust bekommen hast, ein bisschen was zu hinterfragen und dir zu überlegen, was deine Bedürfnisse sind und was für dich eine glückliche Beziehung ausmacht, wünsche ich dir viel Spass - man kann so viel erleben und lernen dabei :)
Bücher:
Mark Michaels – Designer Relationships (gut zum Start ins Thema, Fokus vor allem auf bewusste Entscheidungen, also in etwa: komm lieber nach Abwägen aller Möglichkeiten zum Fazit monogam leben zu wollen, als ohne darüber nachzudenken was dir wirklich wichtig ist. Zeigt auch auf, dass Bedürfnisse in Beziehungen sich je nach Lebensphase immer wieder ändern können.)
Franklin Veaux & Eve Rickert – More Than Two – A practical guide to ethical polyamory (Der Klassiker. Ein wirklich umfassender Ratgeber mit vielen praktischen Beispielen und anregenden Inputs.)
Christopher Ryan – Sex at Dawn: The Prehistoric Origins of Modern Sexuality (Die wissenschaftliche Grundlage dafür, dass Menschen eigentlich nicht für Monogamie gemacht sind. Sehr empfehlenswert.)
Imre Hofmann & Dominique Zimmermann – Die andere Beziehung (Schlankes Büchlein für die Jackentasche, dafür sehr gehaltvoll. Hier geht's weniger ums praktische sondern die philosophische Sichtweise. Mein Exemplar habe ich zwei Mal gelesen und einiges markiert. Lohnt sich!)
Dossie Easton & Janet W. Hardy – The Ethical Slut (Hat mir weniger hilfreichen Input gegeben als "More than two", ist aber ein alter Klassiker zum Thema, auf dem viele andere aufbauen)
Videos:
Christopher Gottwald über Polyamorie (Youtube, 30 Minuten)
Federica Gregoratto: Polyamorie und wahre Liebe | Sternstunde Philosophie (SRF Kultur, 1 Stunde)
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